Nach einem Jahr der Vorbereitung, unzähligen Diskussionen in den Theaterproben, bei denen sich die neun Spielerinnen und Spieler aus Klasse 10 bis 12 Inhalte und mögliche Gestaltungsrichtungen zu eigen machten und mitgestalteten sowie einer intensiven Schlussphase mit Probenfreizeit auf der „Sonnenmatte“ führten wir in drei Aufführungen vom 25. bis 27. 4. 2016 das Stück „Kaspar and the Cockroaches“ auf. Eine gigantische Kakerlake, ein Babylaufstall, ein kurzer Film vom Rasieren einer Glatze, überreife Melonen, die nach und nach zerstückelt wurden, Tanzdarbietungen, Herr Heger als Opa, regnende Luftballons sowie eine echte Zigarette, die auf der Bühne geraucht wurde, dieser krude Zutatenmix mag dem einen oder anderen in Erinnerung geblieben sein von der Aufführung. Dass hier auf der Aulabühne eine Zigarette durch einen Schüler geraucht wurde, könnte man als unerhört bezeichnen. Lehrer ließen das zu? Ein Aufreger. Doch genau das wussten auch die beiden Schauspieler in dem Moment, als sie während des Rauchens über Schwulenfeindlichkeit redeten: „Ist doch egal, was wir hier sagen. Hinterher erzählen eh alle nur von…“. Ein Blick auf die Zigarette in der Hand ergänzte den Satz. Der Satz stand natürlich im Text. Dass das Stück unter der Oberfläche der Provokation mehr zu bieten hatte, zeigt sich im folgenden Einführungstext. (Christian Lang)

Einführung in „Kaspar and the Cockroaches“

Das Theaterstück „Kaspar and the Cockroaches“ von Moritz Heger beschäftigt sich mit der Frage nach Identität und gesellschaftlichen Normen. Es beruht auf zwei Werken, die auf den ersten Blick wenig verbindet: Franz Kafkas „Verwandlung“ und Peter Handkes „Kaspar“.

Hier eine kurze Einführung in beide Stücke:
Die Novelle „Die Verwandlung“ wurde im Jahr 1912, rund 20 Jahre vor Beginn des Nationalsozialismus, geschrieben. Sie handelt vom angesehenen Geschäftsmann Gregor Samsa, der Alleinversorger seiner Familie, bestehend aus Vater, Mutter und Schwester, ist. Eines Morgens wacht er auf und findet sich in ein „ungeheueres Ungeziefer verwandelt“, woraufhin ihn seine Familie meidet und schließlich verstößt. In vielen Interpretationen wird Gregor beschönigt zu einem Käfer, in „Kaspar and the Cockroaches“ jedoch ist er als widerwärtige Kakerlake dargestellt. Diesen Aspekt hervorzuheben war wichtig für unser Stück und seine Botschaft: Gregor Samsa wird von einem geschätzten Mann zum Ungeziefer, welches man nicht einmal mehr ansehen will. Heger und seine Schauspieler sahen in der Erzählung Parallelen zum Nationalsozialismus, obwohl diese vom Autor natürlich nicht beabsichtigt sein können. So kann Gregor Samsa stellvertretend für das jüdische Volk stehen, welches in Hitlers „Mein Kampf“ als „Maden im Speck des deutschen Volkes“ angesehen wurde.

Peter Handkes „Kaspar“ stammt aus den 1960er Jahren und greift eine Begebenheit auf, die ungefähr 150 Jahre früher in Nürnberg stattfand. Ein Junge, welcher später als Kaspar Hauser bekannt wird, kommt in die Stadt, ohne sprechen zu können. In Handkes Stück weiß er nicht einmal, wie man geht, scheint nie zuvor Menschen gesehen zu haben. Handke zeigt die Integration Kaspars in die Gesellschaft in einem brutalen Licht. In seinem Theaterstück wird der junge Mann gezwungen, sich anzupassen, man will ihn in eine Form zwängen, in die er einfach nicht passt. Also muss man ihn zurechtbiegen, brechen und dann neu zusammensetzen.

Auf den ersten Blick scheinen beide Stücke wenig Gemeinsamkeiten zu haben, aber ihr gegenläufiger Aufbau macht eine Kombination spannend: Gregor Samsa verliert seinen Platz in der Gesellschaft, während Kaspar den seinen zugewiesen bekommt. Die Theatergruppe TODC arbeitet den Punkt heraus, um den es in beiden Fällen geht: die Frage, wie wir unsere eigene Identität entwickeln bzw. behalten und uns gleichzeitig im Rahmen der moralischen und sonstigen Regeln unserer Gesellschaft bewegen können. Das Stück „Kaspar and the Cockroaches“ möchte keine einfache Antwort geben, sondern die Zuschauer selbst zum Nachdenken anregen.
Friederike Wittke-Göttmann


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